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itter teilen sich nicht nur in kluge und dumme,
aufbrausende und besonnene, gute und weniger gute, sondern auch
noch in zwei andere Gruppen. Die erste
hält es für eine ruhmreiche Tat, in strömendem Regen in
wilden Dornbüschen zu schlafen und sich zum Frühstück
mit einem Stück durchgeweichten Brots zu begnügen.
Die zweite vertritt die Auffassung, es zöge durchaus kein
Unheil nach sich, wenn ein Ritter in einem Gasthof in
einem Bett übernachtet und Rührei mit Schinken zum
Frühstück isst. Beide Gruppen sind sehr einfach voneinander zu
unterscheiden: Die zweite Gruppe stinkt nicht
ganz so stark und hat eine gesündere Gesichtsfarbe. Sir Paclus war
zu Trix’ Glück nicht nur besonnen und
gut, sondern auch der Bequemlichkeit zugeneigt. Deshalb
übernachtete der Ritter mit seinem neuen Knappen in
einer Schenke. Sie war sauber und erst kürzlich durch
Magie von Ungeziefer befreit worden.
»Du wirst es schätzen lernen, mein Junge, wenn du im
Bierkrug keine Kakerlaken findest und dich nachts keine
Wanzen beißen«, sagte Paclus und machte es sich auf
dem einzigen Bett gemütlich. »Es gibt nämlich nichts
Schlimmeres, als wenn dir das Ungeziefer unters Kettenhemd kriecht
und du dich nicht kratzen kannst. Auch
wenn es, zugegeben, den Kampfeseifer enorm schürt.« »Und wie ist
man die Viecher losgeworden?«, fragte
Trix, während er seinen Strohsack aufschüttelte, der an
der Tür lag (damit der gemeine Feind zunächst über den
Knappen stolperte und wertvolle Zeit damit verlor, ihm
die Kehle aufzuschlitzen).
»Na, wie wohl?« Sir Paclus kratzte sich den behaarten Bauch. (Als
Trix Paclus aus dem Kettenhemd geholfen hatte, sodass der Ritter
nur noch in Unterhosen dastand, hatte er eine wahre Haarpracht
freigelegt.) »Mit Magie natürlich. Die Magie, mein Junge, ist eine
große Kraft!« »Aber ich habe geglaubt, Ihr würdet die Magie
hassen«, sagte Trix nachdenklich. »Wo Ihr doch gegen den Magier
kämpft.«
»Ich? Die Magie hassen?« Paclus verdrehte die Augen. »Ja, bist du
wirklich so dumm?! Wieso sollte ich die Magie hassen? Nichts hilft
einem Ritter im Kampf so sehr wie sie! Und im täglichen Leben sind
eh alle auf sie angewiesen! Wer sagt denn den Bauern das Wetter
voraus? Die Magier! Wer schickt einen Feuerregen gegen Monster oder
sperrt sie in einen Eisklumpen ein? Die Magier! Wer heilt Wunden,
schickt Botschaften durchs ganze Land und spioniert durch eine
Kristallkugel die Lage aus? Die Magier und niemand sonst! Magie
kann alles!«
»Warum habt Ihr dann etwas gegen Magier?«, wollte Trix wissen,
obwohl ihm schon fast die Augen zufielen. Aber auch Paclus schien
zum Plaudern aufgelegt. »Oder geht es nur um den einen Magier? Den,
gegen den wir morgen antreten.«
»Ich soll etwas gegen Magier haben?« Paclus schnaubte. »Wenn wir
keine Magier hätten, hätte uns Samarschan längst geschluckt. Oder
die Barbaren aus dem Norden. Oder die Vitamanten, die seit dem
Zweiten Magischen Krieg auf den Kristallenen Inseln lauern.« »Also
geht es nur um diesen einen Magier?«, hakte Trix nach.
»Radion Sauerampfer? Ich soll etwas gegen Radion Sauerampfer
haben?« Jetzt platzte Paclus der Kragen. »Schreib dir gefälligst
eins hinter die Ohren, du aufmüpfiger Knabe! Radion und ich haben
im Zweiten Magischen Krieg an der Schwarzen Anfurt Seite an Seite
gekämpft! Ich hielt die Vitamanten und die Zombies so lange mit dem
Schwert auf, bis Radion einen Zauber gewirkt hatte. Danach hat uns
das Schicksal noch viele gemeinsame Siege beschert!«
»Dann verstehe ich überhaupt nichts mehr«, gab Trix zu. »Warum
kämpft Ihr dann gegen ihn?«
»Weil wir vor anderthalb Jahren bei einem Becher guten Weins
aneinandergeraten sind.« Mit einem Seufzer bettete Paclus den Kopf
auf den glatt gehobelten Holzklotz, der in Gasthöfen das Kopfkissen
ersetzte. »Radion hat behauptet, dass ein Magier stärker sei als
ein Ritter. Kein Ritter könne einen Magier im ehrlichen Kampf
besiegen. Ich schon, habe ich gesagt. Seitdem versuche ich, seinen
Turm im Sturm zu nehmen. Aber … bisher ist es mir nicht
geglückt.«
Schweigend verarbeitete Trix, was er gehört hatte. »Dieser Becher
war ziemlich groß«, fuhr Paclus fort. »Es ist wohl auch nicht bei
dem einen geblieben. Aber ich habe einen Eid geschworen, davon sind
wir beide überzeugt! Und Eid bleibt Eid!«
Trix dachte an die verschwundenen Knappen, sagte jedoch kein Wort.
In den letzten drei Tagen war er entschieden reifer
geworden.
»Die Knappen tun mir leid«, seufzte Paclus, als hätte er Trix’
Gedanken gelesen. »Ich bin besser ausgerüstet und Magie kann mir
nichts anhaben …« Er verstummte jäh, als habe er sich verplappert.
Trix war das aber sowieso entgangen, der sagte weiterhin kein Wort.
»Also freiheraus!«, polterte Paclus. »Ich bin zu einem Viertel ein
Zwerg. Und Zwerge sind von Geburt an immun gegen Magie. Hast du was
gegen Zwerge?« »Ich?«, fragte Trix erschrocken. »Nicht das
Geringste. Ich habe in den Chroniken gelesen, dass es Zeiten gab,
in denen Zwerge und Menschen nicht nur nicht gegeneinander
kämpften, sondern sogar Seite an Seite in die Schlacht zogen. Gegen
die Elfen. Oder um größere Beute zu machen.«
»Richtig«, lobte Paclus. »Die Zwerge halten mich übrigens gar nicht
für ihresgleichen. Meine Großmama war Zwergin. Das ist ein
besonderer Fall. Denn das Zwergsein vererbt sich über die männliche
Linie. Über die weibliche, das gibt es nur bei den
Elfen.«
»Wahrscheinlich steckt eine sehr romantische Geschichte dahinter«,
sagte Trix. »Wenn Eure Großmutter eine Zwergin war.
Oder?«
Paclus setzte sich ruckartig im Bett auf. Er griff nach einer
Kerze, ging zu dem Strohsack hinüber, beugte sich über Trix, führte
die Kerze vor sein Gesicht und musterte ihn argwöhnisch. Als er
sich sicher war, dass Trix ihn nicht verspottete, zerzauste er dem
Jungen lächelnd das Haar, löschte mit seinen dicken Fingern die
Flamme und flüsterte: »Zeit zu schlafen, wir brechen morgen früh
auf!«
»Gute Nacht, Herr«, brachte Trix die ungewohnte Anrede mit Mühe
über die Lippen.
»Gute Nacht, Knappe.« Paclus’ Stimme verriet immer noch eine
gewisse Verlegenheit. Er ließ sich schwer aufs Bett plumpsen und
wälzte sich eine Weile hin und her, bis er die richtige Position
fand. »Sie war schon romantisch, die Geschichte«, sagte er
schließlich. »Meine Großmama und mein Großpapa wurden bei einem
Schiffbruch auf eine einsame Insel gespült.«
»Gab es da Wilde?«, fragte Trix.
»Was? Was für Wilde?! Ich hab doch gesagt, die Insel war einsam! Da
war niemand! Nicht mal Ziegen! Fünf Jahre hat mein Großvater sich
beherrscht, aber im sechsten hat er meiner Großmutter einen
Heiratsantrag gemacht. Er war ja schließlich nicht aus Eisen. Ein
Jahr später, als meine Mutter gerade auf die Welt gekommen war,
lief ein Piratenschiff die Insel an, um seine Wasservorräte zu
ergänzen. Meine Großeltern bewegten die Halsaufschneider dazu, sie
mit zurückzunehmen. Zu den Zwergen konnte meine Großmama nicht
mehr, die sind da sehr streng. Aber mein Großpapa war ein Mann von
Ehre. Er stand zu seiner Ehe. Außerdem liebte er seine Tochter. Bis
ins hohe Alter hat er ihr eigenhändig den Kopf
geschoren.«
Wie gebannt lauschte Trix der Geschichte.
»Mein Großpapa fehlt mir«, fuhr Paclus fort. »Er ist vor Kurzem
gestorben.«
»Und Eure Großmutter?«, fragte Trix.
»Meine Großmutter? Sie ist Zwergin, das sagt doch alles! Nach wie
vor steht sie in der Schmiede und schwingt von morgens früh bis
abends spät den Hammer. Meine Rüstung stammt von ihr! In der steckt
übrigens auch jene Kraft, die mich gegen Magie feit. Meine Großmama
ist eine wahre Meisterin! Sie macht sich Bierkrüge selbst, die
Bartnadeln …«
»Meine Großmama hat auch gern … gestickt«, bemerkte Trix
kühn.
»Das ist nur zu begrüßen!«, lobte Paclus. »Wie adlig du auch sein
magst, du musst auch was mit deinen Händen anzufangen wissen! Doch
genug! Schlaf jetzt!« Trix fielen jetzt in der Tat die Augen zu –
und auch die Lippen. Er schlief schnell und fest ein.
Paclus dagegen wälzte sich lange hin und her und stand sogar noch
einmal auf, da er ein Geschäft zu erledigen hatte. Als er vom Hof
zurückkam, betrachtete er Trix, der zusammengerollt auf seinem
Strohsack lag, voll ungestümer Zuneigung und deckte ihn fürsorglich
mit seiner, Paclus’, Decke zu. Die Nacht war frisch, vom Meer wehte
ein kalter Wind heran. Doch wie jedem Menschen mit einem Schuss
Zwergenblut machte Paclus die Kälte nicht viel aus.
Will man wissen, wie es um einen Staat bestellt ist, braucht man sich nur seine Straßen anzusehen, das weiß jeder. Ein ehrgeiziger und strenger Herrscher, der die Bauern an den Bettelstab bringt und seine Bürger mit Steuern erdrückt, mag sich eine Hauptstadt von unsagbarer Schönheit leisten. Unter einem trägen und willenlosen Herrscher, der dem einfachen Volk alles durchgehen lässt, wachsen und gedeihen womöglich die Dörfer und Städte, während der Staat selbst im Sterben liegt. Doch im einen wie im anderen Fall wird es kaum Straßen geben, denn nur ein Herrscher, der in sich Strenge und Nachgiebigkeit, Wille und Geduld vereint, spannt in seinem Land ein Netz von Wegen, das es fester zusammenhält als die Hellebarden der Soldaten, die gemeinsame Sprache oder der gemeinsame Glaube.
Im Königreich gab es Straßen. Und zwar überall. Doch im Fürstentum Dillon – und das hätte niemand abzustreiten gewagt – waren sie in Ordnung. Mal handelte es sich nur um festgestampfte Erde, mal waren sie mit Stein oder Steinholz gepflastert, wenn es sein musste, gab es Brücken und Fährstellen, Schenken, Pferdeställe und Häuser für die Wachposten entlang des Weges. Sicher, in einigen wilden Gegenden traf man auf Räuber und unwegsames Gelände (niemand wusste, was schlimmer war und was die Staatskasse mehr belastete), aber im Großen und Ganzen war es ein Vergnügen, durch Dillon zu reisen.
Trix genoss den Ritt auf dem friedlichen rotscheckigen Hengst mit dem weißen Schwanz. Der Hengst war nicht mehr jung und deshalb gelassen, aber auch noch nicht alt, weshalb er den Jungen nach all den in Eisen verpackten Rittern mühelos wie eine Feder auf seinem Rücken trug. Wenn Trix ihm die Schenkel in die Seite presste, drehte er verwundert den Kopf, als hätte er inzwischen vergessen, dass jemand auf ihm ritt. Paclus’ Pferd, ein junger Goldfuchs, schritt stolz voran, Trix’ Hengst folgte ihm ohne Eile. Der Ritter und sein Knappe ließen Dillon hinter sich und ritten zwischen endlosen Weizenfeldern dahin.
»Wie wollt Ihr Radion Sauerampfer eigentlich besiegen, Sir Paclus?«, fragte Trix, sobald er der Landschaft nichts mehr abgewinnen konnte.
»Mit einem Amulett«, antwortete der Ritter. Den Helm hatte er abgenommen und hielt ihn in der Armbeuge, den Kopf schützte er mit einem weißen Tuch gegen die Sonne. »Mit dem, das mir gestern der bucklige Zwerg gebracht hat. Wenn er mich nicht angelogen hat, dann wird es mich eine Viertelstunde gegen jeden magischen Angriff von Radion schützen.«
»Und was ist mit mir?«, erkundigte sich Trix. Das Duell erschien ihm ein wenig fragwürdig, wenn der Ritter ein magisches Amulett benutzte, aber über dieses Thema ging er großzügig hinweg.
»Du wirst dich abseits halten.« Paclus schirmte die Augen mit der Hand ab und spähte in die Ferne. »Da ist er ja. Also hat er uns auch schon gesehen …«
»Radion?«
»Wer sonst!«
Als Trix genauer hinsah, machte er am Horizont die
Spitze eines Turms aus. Wie es sich für einen Magier gehört, der etwas auf sich hält und bei niemandem in Diensten steht, lebte Radion in einem eigenen Turm, wo er sich ganz der Zauberei hingab.
Nun gab es kein Zurück mehr.»Kommt der Herr Sauerampfer eigentlich auch mal
nach Dillon?«, fragte Trix.
»Sowohl nach Dillon wie auch nach Bossgard, das ist das kleine
Städtchen in der Nähe seines Turms. Er verdient sich da wohl etwas
Geld mit seiner Zauberei. Je nach Bedarf, denn er steht nicht fest
beim Magistrat in Diensten.«
»Vielleicht solltet Ihr dann lieber in der Stadt gegen ihn
antreten?«, schlug Trix vor. »Im Turm wird er sich immer gut zu
verteidigen wissen.«
»Junger Mann!«, explodierte Paclus. »Wie oft soll ich dir noch
sagen, dass ich ein ehrliches Duell will! Keinen Überfall aus dem
Hinterhalt! Keine Tricks! Sondern einen ehrlichen Kampf! Ich komme,
fordere ihn heraus und ziehe wieder ab.«
Trix fielen die Knappen ein, die nicht mehr hatten abziehen können,
und er seufzte bitter.
»Du hältst dich abseits«, schärfte ihm Paclus ein. »Dir passiert
nichts. Du weißt, was es mit Magie auf sich hat?«
»Selbstverständlich. Mein Vater hatte einen Zauberer an seinem Hof.
Keinen sehr starken«, räumte Trix ein, »aber einiges hat er
zustande gebracht.«
»Ach ja. Ich vergaß, dass du von edlem Blut bist«, sagte Paclus.
»Weißt du auch, worin das Wesen der Magie besteht?«
»Natürlich. Magie bedeutet Macht über die Welt, die sich in Worten
ausdrückt. Mit Zauberkraft aufgeladene Worte können die reale Welt
verändern, eine Sache in eine andere und diese wiederum in nichts
verwandeln. Kurz und gut, die Wörter machen, was der Zauberer
will!«, erklärte Trix eifrig. Als ihm jedoch aufging, was er eben
gesagt hatte, sank ihm sogleich der Mut.
»Richtig«, erwiderte Paclus. »Genau so ist es. Aber mach dir keine
Sorgen, das ist alles nur Theorie. In der Praxis sind Magier längst
nicht allmächtig!«
Eine Zeit lang ritten sie schweigend weiter.
»Obwohl … Sauerampfer ist schon ziemlich dicht dran an der
Allmacht«, schob Paclus plötzlich mit überraschendem Stolz nach.
»Siehst du seinen Turm? Der ist aus Elfenbein! Wie es sich
ziemt!«
Zwar waren es bis zum Turm noch mindestens zwei Meilen, doch er war
in der Tat bereits klar zu erkennen. Trix starrte ihn fassungslos
an: Der milchweiße Turm musste rund hundert Ellen hoch sein. Unten
stützten ihn gewaltige Pfeiler aus schwarzem Stein. Er war über und
über mit aparten Schnitzereien verziert. Steinlaub, auch Krabbe
genannt, kroch die Giebel hoch. Atlasstatuen trugen die Balkone,
zahllose Rosetten und Blendarkaden schmückten die Fassade. Die
Fenster waren mit prachtvollen Kreuzen versehen, ihre nicht minder
prachtvollen Läden standen offen. Aus den Mauern schossen
Wasserspeier. Neben Elfenbein wurde für die Verzierung auch
Kristall genutzt, das in den Fenstern funkelte, und schwarzer
Stein, mit dem einzelne Elemente der Statuen herausgehoben wurden,
die der Magier offenbar für besonders wichtig hielt.
Oben erweiterte sich der Elfenbeinturm zu einem Wohngebäude, das so
groß war wie eine prächtige, zweistöckige Villa. Auch dieser Teil
war reich verziert, mit Türmen und Wimpergen an den Ecken, einer
durchbrochenen Brüstung am Dachrand und – warum auch immer –
Flügeln wie bei einer Windmühle.
Trix konnte sich gut vorstellen, dass auf dem Dach regelmäßig
Transportdrachen landeten.
»Woher hat er so viel Elfenbein?«, fragte er überwältigt. »Dafür
hätte er ja alle Elefanten der Welt erlegen müssen!«
»Was woher? Das hat er sich
herbeigezaubert! Außerdem ist es nur außen Elfenbein, weil das
besser aussieht, innen ist der Turm aus Stein.«
»Und das geht? Unser Magier hat immer gesagt, die herbeigezauberten
Sachen hätten nicht die Stabilität der echten und würden im
Handumdrehen zu Staub zerfallen.«
»Dann hattet ihr einen miserablen Magier«, befand Paclus. »Ein
echter Zauberer kann Dinge herbeizaubern, die sogar besser sind als
die echten.«
»Wo soll ich auf Euch warten?«, fragte Trix.
»Siehst du diesen Hain dort?« Paclus streckte den eisengeschützten
Arm aus. »In dem wirst du auf mich warten. Sauerampfer liebt die
Natur, er wird die Bäume nicht mit seinen Feuerbällen
niederbrennen. Sieh dir nur die Blumen um den Turm an! Der reinste
Rosengarten!«
Nach Trix’ Dafürhalten lag der Hain viel zu dicht am Turm. Der war
ja höchstens eine Meile weg! Aber gut, es war ein Unterschlupf! Und
wenn der Magier die Natur liebte …
»In Ordnung«, sagte Trix. »Das mache ich.«
Schweigend ritten sie bis zum Hain, wo sie haltmachten. Paclus
spähte argwöhnisch zum Turm hinüber und holte aus seiner
Satteltasche das Amulett, einen recht großen fünfzackigen Stern aus
rubinrotem Stein, den er geschickt am Helm anbrachte. Auf ein
Nicken hin half Trix ihm, den Helm an der Rüstung zu
befestigen.
»Das ist ein altes und sehr starkes magisches Symbol«, erklärte
Paclus. »Es heißt, einst habe der Stern ein ganzes Volk beschützt.
Stärker als er ist vielleicht nur noch der gelbe sechszackige
Stern, aber für den braucht man die Erlaubnis vom
Magierkapitel.«
»Und wie wollt Ihr in den Turm gelangen?«
»Durch die Tür. Das Problem ist, zu ihr zu gelangen.« Paclus
murmelte etwas, das sich verdächtig nach einer Anrufung Muradins,
des Gottes der Zwerge, anhörte. Er zog das Schwert aus der Scheide
und trieb sein Pferd an, eine Respektlosigkeit, die dieses ungemein
ärgerte. Um den Turm herum gab es keinen Wald und keine Felder,
sondern nur eine grüne Wiese, die üppig mit Blumen, vor allem
purpurroten Rosen, bewachsen war. Das Pferd sprang so leicht über
sie dahin wie über einen ebenen Weg.
Trix warf die Zügel rasch über einen herunterhängenden Ast, hielt
die Luft an und beobachtete Paclus. Sein Pferd fraß von dem Gras,
fand es jedoch wenig schmackhaft und fing daraufhin an, Trix’ Ohr
zu beschnuppern. Der trat lieber einen Schritt zurück.
Eingeschnappt machte sich das Pferd nun doch übers Gras
her.
Sir Paclus hielt mit hoch erhobenem Schwert auf den Turm zu. Gut,
wir wollen ehrlich sein, mit nicht allzu hoch erhobenem Schwert.
Paclus’ hatte muskulöse, aber kurze Arme. Trix ertappte sich bei
dem Gedanken, dass ein Streithammer oder Wurfbeil sich in Paclus’
Pranken passender ausnähme.
Aber Ritter pflegten nun einmal nicht mit Hämmern zu kämpfen. Das
war Sache der Zwerge.
Da eine Zeit lang rein gar nichts geschah, hoffte Trix schon, der
Zauberer Sauerampfer sei nicht zu Hause. Vielleicht zauberte er ja
gerade für den Magistrat in Bossgard? Oder er suchte Gräser für
magische Tränke, Sauerampfer für die Suppe …
Doch er hatte sich zu früh gefreut. Plötzlich leuchtete die Spitze
des Turms in einem gespenstischen roten Licht auf. In der Luft über
dem Turm bildete sich ein riesiges Gesicht aus Rauch. Anscheinend
das von Radion Sauerampfer.
Bei dem Zauberer handelte es sich um einen rundgesichtigen,
kurzhaarigen Mann in mittleren Jahren. Vermutlich hätte er völlig
harmlos gewirkt, wenn nicht die finster zusammengezogenen Brauen
gewesen wären, die von Feuerexplosionen lodernden Augen und die
Größe. Das Gesicht neigte sich langsam. Mit stockendem Herzen
begriff Trix, dass es tatsächlich nur ein Gesicht war, das da in
der Luft hing, eine Art leerer Maske. Es sah zu Sir Paclus
hinüber.
Der Ritter jagte zum Turm.
Der Magier zog die Brauen noch stärker zusammen. Er blähte die
Wangen auf – und pustete Paclus von der Höhe seines Turms aus
an.
Ein Sturm brach los. Das Gras auf der Wiese schmiegte sich dicht an
den Boden. Die Bäume schwankten. Das Pferd von Sir Paclus bäumte
sich auf und drehte sich im Kreis. Der Ritter versuchte sich auf
ihm zu halten, schaffte es aber nicht, daran hinderte ihn der zum
Himmel hochgereckte Schwertarm. Mit einem gewaltigen Poltern
landete Sir Paclus bäuchlings im Gras. Der Goldfuchs scherte sich
nicht weiter um den in Balladen besungenen Heldenmut ritterlicher
Pferde und sprang davon.
»Das Amulett funktioniert nicht …«, presste Trix heraus.
Das traf die Sache aber nicht ganz. Der seines Pferdes beraubte
Paclus stand nämlich auf, schüttelte den Kopf und stapfte auf den
Turm zu. Ihn hielt der Hurrikan nicht auf. Anscheinend schützte das
Amulett nur den Reiter, nicht auch das Tier.
Das Gesicht des Magiers wurde immer finsterer. Er hörte auf zu
pusten. Er zwinkerte – und aus seinen Augen schossen weiße Blitze,
die auf die Wiese prasselten. Als einer von ihnen in Paclus’ Helm
einschlug, stoben bunte Funken auf.
Trotzdem ging der Ritter stur weiter. Trix vernahm, wenn auch durch
die Entfernung gedämpft, Flüche und Drohungen, den arroganten
Magier ordentlich zu vermöbeln.
Darauf riss der Magier nach kurzer Überlegung den Mund
sperrangelweit auf und schrie los. Der Schrei war derart laut und
beängstigend, dass man ihn wahrscheinlich sogar in Dillon hörte.
Trix hielt sich die Ohren zu und schrie zurück, denn will man sich
bei lautem Geschrei gegen Ertaubung schützen, gibt es ja
bekanntlich nichts Besseres, als selbst zu schreien.
Dabei war der Schrei noch nicht mal das Schlimmste. Kleine Klumpen
schossen kreiselnd und sich überschlagend aus dem Mund des Magiers,
platzten auf und verwandelten sich in widerliche Monster: in flinke
Kreaturen, die an Affen erinnerten, in stämmige Minotauren, in
riesige gehörnte Dämonen und in hüpfende, mit Augen ausgestattete
Kugeln, die wie rohes Fleisch aussahen. Sämtliche Monster stürzten
sich fröhlich auf Sir Paclus.
Anscheinend freute sich aber auch der Ritter über ihr Auftauchen.
Den ersten Minotaurus spaltete er mit dem Schwert in zwei Teile,
die von einem Affen geschleuderte Feuerkugel wehrte er mit der
Klinge ab, obendrein so geschickt, dass die Kugel dem Dämon, der
ihm am nächsten war, das Horn samt Kopf verbrannte. Wild mit dem
Schwert fuchtelnd, ließ Paclus kein Monster an sich heran und
setzte seinen Weg zum Turm fort, wobei er zerhackte Kadaver und
Pfützen bunten Blutes hinter sich ließ.
»Ei pottstausend!«, schrie Trix und sprang mehrmals in die Luft.
»Hoch lebe der ruhmreiche Sir Paclus!« Er schämte sich nun nicht
länger seiner Stellung als Knappe, im Gegenteil, er entdeckte
gewisse Vorteile in ihr. Den Sieg hatte Paclus errungen, aber er,
Trix, durfte mit Fug und Recht sagen: »Als wir, Sir Paclus und ich,
den großen Magier Radion Sauerampfer bezwungen haben …«
Mit seinem Gejohle hatte Trix jedoch einen Fehler begangen. Das
begriff er, als sich einer der Minotauren, der relativ weit weg von
Paclus gelandet war, nach ihm umdrehte und munter Richtung Hain
lostrabte.
Als Erster zog das Pferd, das nicht umsonst ein langes Leben unter
ritterlichem Sattel verbracht hatte, seine Schlüsse. Mit einem Ruck
hatte es die Zügel vom Zweig gerissen und sprang durch die Bäume zu
seinem goldfuchsigen Artgenossen, der sich in sicherem Abstand am
Wegesrand hielt. Trix konnte ihm nur noch einen Blick
hinterherschicken – dann musste er sich wieder dem Minotaurus
zuwenden.
Das Monster bleckte das grauenvolle Stiermaul. Dieses war der Natur
zum Trotz (doch was wollte man beim Anblick eines Minotaurus
überhaupt noch von der Natur halten?) mit scharfen Raubtierfängen
ausgestattet. Den mit zottigem, rotem Fell bewachsenen Körper des
Minotaurus schützte ein Panzer. In den Händen hielt er eine lange
Hellebarde – als vertraue er nicht auf Fänge und
Muskelkraft.
Trix stieß einen derart lauten Schrei aus, dass sogar Paclus ihn
hörte, obwohl er den Turm fast erreicht hatte. Der Ritter drehte
sich um, zögerte den Bruchteil einer Sekunde, stürzte dann aber,
die schlimmsten Flüche ausstoßend, seinem Knappen zu Hilfe. Er
bewegte sich erstaunlich schnell auf seinen kurzen Beinen. Trotzdem
konnte es keinen Zweifel am Ausgang dieses Wettrennens geben. Dem
Minotaurus würde genug Zeit bleiben, um die Filetstückchen aus Trix
herauszubeißen und sie zu vertilgen. Vielleicht würde er es sogar
schaffen, sie vorher über einem Feuer zu grillen.
So wie der Minotaurus aussah, dürfte er allerdings auch nichts
dagegen haben, den Jungen roh zu fressen.
Der erste Gedanke, der Trix in den Sinn kam, war recht vernünftig.
Minotauren können ja wohl nicht auf Bäume klettern, oder?
Doch ein rascher Blick auf die Bäume ließ Trix verzweifeln: Der
höchste war gerade doppelt mannshoch. Mit seiner Hellebarde würde
der Minotaurus ihn, Trix, aus der Krone fischen, ohne sich auch nur
auf die Zehenspitzen stellen zu müssen.
Der zweite Gedanke war, wie oft in kritischen Lagen, dumm. Ein
Minotaurus ist ja halb Mensch, halb Tier. Und wie jedes Monster
fürchtet er loderndes Feuer, fließendes Wasser und den festen Blick
eines Menschen.
Hätte Trix etwas weniger Angst gehabt, wäre ihm vielleicht
aufgefallen, dass der Minotaurus über einen qualmenden Trichter
hinwegsprang, den einer der magischen Blitze in die Erde getrieben
hatte, ohne auch nur die geringste Furcht zu zeigen, dass er mit
nackten Füßen über das brennende Gras lief und leichtfüßig einen
rauschenden Bach durchquerte.
In seiner Panik nahm Trix jedoch nichts außer den blutunterlaufenen
Augen, den spitzen Hörnern, den gefletschten Fängen und dem
zottigen roten Fell wahr. Deshalb richtete er sich auf und
versuchte, eine stolze Haltung einzunehmen (wäre er etwas größer
gewesen, wäre ihm das auch gelungen), bohrte seinen Blick in die
Augen des Minotaurus und schrie mit aller Kraft (wobei sich seine
Stimme überschlug): »Bleib ja stehen! Du hast einen Menschen vor
dir!«
Das klang stolz, aber der Minotaurus blieb natürlich nicht stehen.
Im Gegenteil, dass da vor ihm ein kleiner Junge stand und ihm in
die Augen sah, schien ihn noch anzuspornen. Er warf den Kopf in den
Nacken, stieß ein lautes Brüllen aus und hämmerte sich im Laufen
mit der linken Hand gegen die Brust, was dem Eisenpanzer tiefe
Dellen eintrug. In der rechten Hand hielt der Minotaurus nach wie
vor die Hellebarde.
Aber all das kriegte Trix gar nicht richtig mit. Es war zu spät, um
wegzulaufen, auf einen Baum zu klettern wäre dumm und sich in den
Kampf zu stürzen geradezu lächerlich. So ließ er sich einfach von
seiner Idee mitreißen: »Auf die Knie!«, schrie er. »Dein Zorn
zerschellt an meiner Kühnheit! Noch einen Schritt – und du gehst
unter höllischen Qualen zugrunde! Dein Herz bleibt stehen, die Luft
bleibt dir weg!«
Der Minotaurus machte halt und starrte Trix verblüfft an. Den
Jungen und das Biest trennten noch höchstens zehn Schritt
voneinander. Trix meinte, schon den stinkenden Atem des Monsters zu
riechen. Das Untier suchte mit seinen bösen Augen den Boden ab, als
erwarte es, eine Falle zu entdecken.
»Noch ein Schritt, und du stirbst wie ein hirnloser Stier auf der
Schlachtbank!«, drohte Trix. »Fleh um Gnade, du widerliche Kreatur!
Du Ausgeburt des Dunkels und des Chaos!«
Es lässt sich nicht sagen, was genau das Monster nun so aufbrachte:
der Vergleich mit dem Stier oder die Formulierung mit dem Dunkel
und dem Chaos, aus dem er ja tatsächlich kam. Jedenfalls fletschte
der Minotaurus erneut die Zähne und machte einen entschlossenen
Schritt auf Trix zu.
Worauf er sofort erstarrte.
In die Fratze des Monsters malte sich nach und nach ein
verwunderter Ausdruck. Er ließ die Hellebarde fallen und zerrte mit
beiden Händen am Harnisch. Die robusten Lederriemen, mit denen die
Brust- und Rückenpanzer verbunden waren, hielten nicht und rissen,
die Platten landeten vor den Füßen des Minotaurus. Das Monster
kratzte sich erst die Brust und schlug dann mehrmals mit der Faust
aufs Herz, worauf es laut und erleichtert seufzte. Es trat einen
Schritt zurück und sah Trix angstvoll an.
Trix schaute noch angstvoller zurück.
Der Minotaurus drehte sich zum Elfenbeinturm und zu dem Gesicht des
Magiers um, das in der Luft schwebte und offenbar in ihre Richtung
blickte.
»Wag es ja nicht!«, drohte Trix. Sein Blick fiel auf einen Stein am
Boden, einen glatten, von Wasser und Wind abgeschliffenen
faustgroßen Kiesel. »Hast du je vom großen Ritter Margon Grünzahn
gehört, der einen Zyklopen mit einem gut gezielten Steinwurf zur
Strecke gebracht hat?«
Trix zog flink den Gürtel aus seinen Hosen, bückte sich, hob den
Kiesel auf und legte ihn in den Riemen. Eine anständige Schleuder
war das zwar nicht, außerdem schenkte Trix der Ballade von Margon
nicht wirklich Glauben. Trotzdem …
»Es bedarf nur eines Steins, um deinen Schädel zu zertrümmern und
dein stinkendes Hirn in der Gegend zu verspritzen!«, erklärte Trix.
»Meine Taten erschrecken mich selbst manchmal! Niemand ist in
meiner Nähe sicher, wenn ich eine Waffe in die Hand nehme! Mehr als
eine Kreatur ist bereits durch meine Hände umgekommen!«
Wollte man präzise sein, dann waren es zwei Kreaturen, die bereits
durch Trix’ Hand umgekommen waren: ein alter, fast blinder Hirsch,
der während einer Jagd genau in Trix’ Lanze gelaufen war (der Junge
hatte danach eine halbe Stunde in einem Holunderstrauch geweint),
und ein junges, dummes Kaninchen, das Trix mit einer Schleuder
erlegt hatte. Das Eichhörnchen, auf das er eigentlich gezielt
hatte, war unverletzt weitergesprungen.
Der Minotaurus sah abermals zum Turm hinüber. Der Magier behielt
sie jetzt fraglos im Auge. Und er machte ein sehr finsteres
Gesicht. Obendrein kam Paclus, dessen Verfolgung die überlebenden
Monster inzwischen aufgegeben hatten, immer näher.
Auf dem Gesicht des Minotaurus spiegelten sich zugleich Wut und
Verzweiflung. Er hob seine Hellebarde auf und machte einen Schritt
auf Trix zu.
Der Junge ließ die Schleuder kreisen und schickte den Stein auf
seine Reise, die sogar fast in Richtung des Monsters
ging.
Der Stein beschrieb eine derart bizarre Bahn, als habe Trix aus der
Schleuder einen verrückten Vogel aufsteigen lassen, und das
durchdringende Heulen, das dabei entstand, legte den Gedanken nahe,
der Vogel sei äußerst unzufrieden mit Trix’ Tun. Am Ende traf der
Stein den Minotaurus aber mitten auf der Stirn, zwischen den Augen
und genau über den wütend geblähten Nüstern.
Der Kopf des Monsters ging in Knochensplitter und feinen grauen
Nieselregen auf. Ohne einen Ton von sich zu geben – denn es gab
nichts mehr, womit er irgendetwas hätte von sich geben können –,
sackte der Minotaurus ins Gras, Trix vor die Füße. Um Trix herum
war alles mit klebrigem grauen Glibber bedeckt – der sagenhaft
stank.
Der heranstürmende Paclus versuchte ebenso verzweifelt wie
vergeblich zu bremsen. Mit vollem Schwung landete er auf dem
kopflosen Minotaurus, wobei er den Arm mit dem Schwert vorstreckte,
sodass er den zottigen Körper aufspießte und auf der Erde
festnagelte.
»Bravo!«, erklang es hinter Trix. »Aber völlig überflüssig, mein
Freund.«
Nachdem Trix seinen Würgereiz bezwungen hatte, drehte er sich um –
und sah einen Mann vor sich. Der lange graue Umhang und der kleine,
runde schwarze Hut, der mit geheimnisvollen Runen bemalt war,
räumten jeden Zweifel aus: Vor ihm stand ein Magier.
»Radion!«, schrie Paclus, der sich kurz zu dem Zauberer umgesehen
hatte. »Diesmal entkommst du mir nicht!« Dann machte er sich daran,
das Schwert aus dem Körper des Monsters zu ziehen. »Na los doch!«
Mit einem Mal schnupperte er und verzog angewidert das Gesicht.
»Was ist das für ein Gestank? Wenn du vorhast, mich zu vergiften
…«
»Oh, der Gestank – der ist auf einen allzu wortreichen Zauber
zurückzuführen.« Radion winkte ab. »Da können wir Abhilfe
schaffen.« Er runzelte die Stirn und sprach: »Süß und rein ist die
Luft, geschwängert vom Duft ferner Blumenwiesen und schneebedeckter
Berggipfel. Sie überspült das blutgetränkte Feld, trägt üblen
Gestank und Aasgeruch davon.«
Sofort war der Gestank wie weggeweht, die Luft roch
frisch.
»Ich fordere dich zum Duell!« Paclus hatte es endlich geschafft,
sein Schwert aus dem Monster zu ziehen. »Verteidige dich, du
selbstgefälliger Snob!«
»Sir Paclus«, sagte Sauerampfer in gewichtigem Ton. Sein Gesicht
war längst nicht so streng wie die gespenstische Maske, die nach
wie vor über dem Turm hing. »Sir Paclus, meinst du nicht auch, wir
sollten angesichts der neuen Umstände unseren alten Streit
vergessen?«
»Du gibst auf?«, frohlockte Paclus.
Als der Magier daraufhin seufzte, wusste Trix, dass das große
Schlachten noch bevorstand. »Halt, Herr!«, schrie er deshalb
panisch. »Halt! Worüber habt Ihr gestritten? Dass Ihr stärker seid
als ein Magier? Und Herr Sauerampfer hat behauptet, er sei stärker
als ein Ritter? Oder habt Ihr gesagt, ein Magier könne einen Ritter
nicht besiegen, und Herr Sauerampfer hat gesagt, ein Ritter könne
einen Magier nicht besiegen?«
»Also«, brachte Paclus heraus, der immer noch mit dem Schwert
herumfuhrwerkte, »daran erinnere ich mich nicht mehr genau. Aber
was spielt das schon für eine Rolle?«
»Vielleicht habt Ihr ja beide recht«, antwortete Trix, von
Beredsamkeit geküsst. »Herr Sauerampfer konnte Euch nicht besiegen,
also habt Ihr recht! Und Ihr konntet Herrn Sauerampfer nicht
besiegen, also hat er recht! Ihr wart doch Freunde! Warum solltet
Ihr da Todfeinde werden?«
Der Ritter sah den Magier nachdenklich an.
Der Magier grinste breit.
»Du bist ein Schuft, denn du hast sechzehn meiner Knappen
getötet!«, polterte Paclus. »Wie könnte ich mich mit dir
aussöhnen?«
»Wer sagt dir, dass sie tot sind?«, entgegnete Sauerampfer.
»Wenigstens du solltest wissen, dass ich stets für Humanität in der
Kampfmagie eintrete!«
Paclus grunzte. Er schielte zu den Monstern hinüber, die noch immer
gesund und munter waren, sich in sicherer Entfernung hielten und
aus lauter Langeweile anfingen, sich gegenseitig zu vermöbeln. Er
schob sein Schwert in die Scheide. »Wenn du mir beweist, dass sie
noch leben …«, sagte er finster, »dann … dann … Aber du bleibst ein
verachtenswerter Lump!«
»Sei mir willkommen, mein Kampfgefährte!«, sagte Sauerampfer
leise.
»Sei mir willkommen, Radion!« Tränen traten Paclus in die Augen.
»Sei mir willkommen, Zauberer!«
Die alten Freunde umarmten sich unter lauten Freudenbekundungen.
Der Magier musste sich ebenfalls die Augen mit dem breiten Ärmel
des Umhangs abwischen.
»Danke, dass du deinen Minotaurus geköpft hast«, sagte Paclus. »Das
ist Trix, mein neuer Knappe. Ein tapferer Junge. Er hat es nicht
verdient, durch die Klauen eines solchen Monsters zu
sterben.«
»Ich habe den Minotaurus nicht getötet«,
erwiderte Sauerampfer grinsend. »Das war er selbst.«
»Er?«, fragte Paclus fassungslos. »Er hat sich selbst den Kopf
abgerissen?«
»Nein. Dein Knappe hat den Minotaurus selbst getötet. Mit einem
Stein aus der Schleuder.«
Sir Paclus trat einen Schritt von Sauerampfer weg, blickte erst auf
den Minotaurus, dann auf Trix und auf den Gürtel in seiner Hand.
»Was?«, fragte er lachend. »Mit einem Stein? Und einer
Schleuder?«
»Der große Margon Grünzahn hat den Zyklopen auch mit einem Stein
erledigt!«, erklärte Trix, der erst jetzt richtig begriff, was er
da vollbracht hatte.
»Ich weiß«, sagte Sauerampfer lächelnd. »Da bin ich nämlich dabei
gewesen. Mit einem einzigen Stein! Völlig richtig! Und einem
Katapult! Und er hat ihn genau ins Auge getroffen!«
»Man kann einen Minotaurus nicht mit einer Schleuder töten!«,
behauptete Paclus steif und fest. »Wunder gibt es nicht!«
»Warum nicht?« Radion Sauerampfer schüttelte den Kopf. »Da wird dir
jeder Magier widersprechen! Und dein Knappe ist ein Magier!« Er
trat an Trix heran und klopfte ihm auf die Schulter. »Und ich muss
sagen, für einen Anfänger war das kein schlechter Zauber!«
Trix hockte in dem kleinen Garten, der auf dem Dach des magischen Turms angelegt war. Hier konnten tatsächlich Drachen landen, da hatte er sich nicht geirrt, denn zwischen zwei kleinen Türmen ragte eine gewaltige Hühnerstange aus dicken Eisenholzbalken auf. Dieses Holz wurde von Drachenzüchtern wegen seiner Feuerfestigkeit sehr geschätzt. Die Stange ließ jedoch noch genug Platz für den kleinen Garten. In ihm wuchsen hauptsächlich Blumen – Vergissmeinnicht, Glockenblumen, Kamillen –, es gab aber auch Gurken, Tomaten und allerlei Kräuter. Ein großes und besonders schönes Stück war wie ein Frühbeet mit Glas überdeckt. Unter dem Glas floss ein kleiner Bach in einem fröhlichen Kreis – was garantiert auf Magie beruhte. Am Ufer stand ein hübsches, kleines Häuschen und darum herum wuselten winzige, höchstens daumengroße Menschlein. Einige sammelten Pilze und Nüsse, andere badeten im Bach, die meisten machten jedoch allerlei Unfug. Sie genossen ihr Leben und bemerkten den Beobachter gar nicht.
»Ich wusste nicht, was ich mit ihnen machen sollte«, erzählte Radion Sauerampfer. Der Magier und der Ritter, nun ausgesöhnt, standen mit Bechern voll Wein an der Drachenstange. »Freilassen? Dann wärest du mir vielleicht böse gewesen und hättest behauptet, ich würde unser Duell nicht ernst nehmen. Sie ausbilden? Aber sie haben nicht die geringste magische Veranlagung! Töten? Das wäre unschön, so ohne jeden Grund. Sie in Gefangenschaft nehmen? Damit sie mir die ganzen Kräuter zertreten und die magischen Bücher mit Zeichnungen vollschmieren? Und das hätten sie getan, es sind nun mal Kinder, was will man da von ihnen erwarten. Also habe ich mir gedacht, ich verkleinere sie auf die Größe meines Handtellers und setze sie in meinen Garten. Sollen sie friedlich in einer Gemeinschaft leben. Später sehen wir dann weiter.«
»Das war hässlich!«, tadelte ihn Paclus. »Die Kinder haben von Heldentaten geträumt und du hast sie in Winzlinge verwandelt!«
»Ich bin ein Magier, es gehört zu meinem Beruf, gemein zu meiner Umwelt zu sein«, erwiderte Sauerampfer gelassen. »Und Heldentaten erleben sie mehr als genug, glaub mir! Wenn sie eine Spitzmaus angreift oder eine Hummel angeflogen kommt … Ihre Abenteuer reichen aus, sämtliche Chroniken zu füllen. Weißt du was? Nimm du sie wieder mit! Ich gebe ihnen ihre frühere Größe zurück. Sie werden sich an das, was mit ihnen geschehen ist, kaum erinnern und glauben, sie hätten alles nur geträumt. Ihre Köpfe sind ja noch klein, da passen nicht viele Erinnerungen rein. Bring sie zurück nach Dillon und erzähle, du habest sie aus der Gefangenschaft des gemeinen Sauerampfer befreit!«
»Ich brauche keine Almosen«, entgegnete Paclus
stolz.
»Was heißt hier Almosen?«, fragte Sauerampfer verwundert. »Du hast
sie doch wirklich befreit! Also, was stört dich?«
»Ich hätte es im Kampf machen müssen«, hielt der Ritter unsicher
dagegen.
»Aber wir haben doch gekämpft! Wenn du willst, kannst du mich ja
noch mal schubsen! Nur bitte nicht mit voller Kraft!«
»Also … ich weiß nicht …« Der Ritter zögerte.
»Nimm sie! Schließlich brauchst du einen Knappen!«
»Aber ich habe doch einen!«, beharrte Paclus.
»Trix? Seit wann dient ein Magier als Knappe?«
Trix beobachtete die beiden verstohlen, wandte sich dann aber
wieder den Menschlein zu. Dieser auffällig gekleidete war bestimmt
sein Vorgänger …
»Trix ist kein Magier! Er ist von edlem Stand und will Ritter
werden!«
»Soweit ich es verstanden habe, will er sich für das rächen, was
ihm angetan worden ist«, stellte Sauerampfer klar. »Und dann gibt
es kein besseres Mittel als Magie, glaub mir!«
»Nun mach mal halblang!«
»Neben der Profession des Ritters«, ergänzte Sauerampfer rasch, der
es offenkundig nicht auf einen neuerlichen Streit ankommen lassen
wollte. »Paclus, mein Freund, du weißt, wie wichtig Magier im Krieg
sind. Und du weißt, wie selten man dieses Talent bei einem Menschen
trifft. Nur bei den Elfen können alle ein bisschen zaubern
…«
»Gefällt mir nicht«, entgegnete Paclus barsch.
Trix fand an dem erbitterten Gefeilsche um seine Person allmählich
Geschmack.
»Du musst dieses Opfer um des ganzen Königreichs willen bringen,
Paclus!«
»Wozu braucht das Königreich noch einen Magier? Wir leben in
friedlichen Zeiten!«
»Noch. Aber«, Sauerampfer senkte die Stimme, »seit einiger Zeit
weht ein schärferer Wind. Die Vitamanten auf den Kristallenen
Inseln haben sich von der Niederlage erholt. Angeblich haben sie es
durch grausame Experimente geschafft, aus normalen Menschen Magier
zu machen. Natürlich nur schwache Magier, die nicht viel ausrichten
können! Aber es sind ihrer Tausende, Paclus!
Zehntausende!«
»Das ist doch gelogen!«, sagte Paclus fast wie ein kleiner Junge.
»Tausende?«
»Ja!«
Stille senkte sich herab. Trix klopfte leise mit dem Finger gegen
das Glas, um die Aufmerksamkeit seiner unglückseligen Vorgänger auf
sich zu lenken. Doch die Menschlein flohen rasch ins Haus.
Anscheinend befürchteten sie, ein Gewitter ziehe herauf.
»Trix!«, rief ihn Paclus.
Trix sprang auf und rannte zu dem Ritter.
»Hast du gehört, worüber wir gesprochen haben?«, fragte
Paclus.
»Ja«, gestand Trix.
»Dann triff eine Entscheidung! Was ist dir lieber: bei mir zu
bleiben oder bei Radion Sauerampfer in die Lehre zu
gehen?«
Trix schwankte. Dem Ritter schmeckte die Aussicht, seinen Knappen
zu verlieren, offenbar nicht. Außerdem war er ihm zu Hilfe geeilt,
obwohl er den Turm schon fast erreicht hatte …
»Kann ich denn nicht beides gleichzeitig sein? Ritter und Magier?«,
suchte Trix nach einem Ausweg.
»Ja!«, antworteten Paclus und Sauerampfer einstimmig. Sie sahen
sich an. Radion sprach aus, was beide dachten: »Nur wärst du dann
ein schlechter Ritter und ein schlechter Magier.«
»Habe ich wirklich magische Fähigkeiten?«, fragte Trix.
»Du weißt, was Magie ist?«, sagte Sauerampfer.
»Die Kunst, mit Worten die Welt zu ändern.«
»Richtig. Und warum können Worte die Welt ändern?«
»Ich weiß nicht.« Trix zuckte die Achseln. »Das ist ein Geheimnis,
oder? Vielleicht sind besondere Worte nötig?«
»Genau«, sagte Sauerampfer. »Du musst wissen, mein Junge, die Welt
– das ist nur die Vorstellung, die wir Menschen von ihr haben. Vor
langer Zeit haben sich die Menschen darauf geeinigt, dass der
Himmel blau, die Sonne gelb, das Gras rot …«
»Radion, das Gras ist grün«, sagte Paclus leise. »Wie oft soll ich
dir das noch sagen?«
»Grün, natürlich«, murmelte der Magier verlegen. »Ich habe mich
absichtlich versprochen – damit das Beispiel markanter
ist.«
»Welche Farbe hat der Wein in unseren Bechern?«, fragte Paclus
unbarmherzig.
»Ist ja schon gut! Du brauchst mir das nicht ewig unter die Nase zu
reiben! Mein Vater konnte Farben nicht unterscheiden und ich komme
da nach ihm. Blut und Wein sind rot, Gras und Frösche grün. Rot
ist, was dir durch die Kehle rinnt, grün, was sich unter deinem Fuß
befind’.«
»Das habe ich mir ausgedacht, damit er es sich besser merkt«,
brüstete sich Paclus. »Aber fahr fort!«
»Also …« Der Magier hüstelte. »Irgendwann haben sich die Menschen
darüber geeinigt, wie die Welt, in der sie leben, beschaffen ist.
Und selbstverständlich geschah das mithilfe von Worten. Aber Worte
können unterschiedlich sein. Und sie haben Kraft! Wenn du die
richtigen Worte findest und überzeugend aussprichst, wird die Welt
dir glauben. Und sich ändern.«
»Deshalb braucht der Magier immer einen Zuhörer«, ergänzte Paclus.
»Und sei es ein dämlicher Minotaurus. Deshalb haben kluge Magier
immer einen Gefährten bei sich. Einen Lehrling zum
Beispiel.«
»Gute Magier«, sagte Sauerampfer in einem Ton, der keinen Zweifel
daran ließ, dass er sich zu den sehr guten zählte, »bringen es
sogar fertig, sich selbst zu überzeugen. Aber mit einem Partner ist
es natürlich leichter. Und je schlichter und vertrauensvoller der
Partner ist, desto besser zaubert der Magier.« Er schielte
verstohlen zu Paclus und nippte rasch am Wein, als sei ihm
aufgefallen, dass er sich verplappert habe. Aber der Ritter
argwöhnte nichts.
»Welche Worte sind in der Zauberei denn die richtigen und welche
nicht?«, fragte Trix.
»Das ist eine gute Frage«, sagte Radion. »Und wie jede gute Frage
enthält sie auch die Antwort. Die richtigen Worte sind die, die
etwas ausrichten! Die dir den Atem nehmen
und das Herz leicht machen!«
»Und warum verlieren die ausgedachten Worte dann ihre Kraft?«,
wollte Trix wissen.
»Ah!« Nun kam Sauerampfer in Fahrt. »In dir steckt wirklich ein
großer Magier! Eben, einen Zauberspruch kann man mehrfach
verwenden. Aber durch wiederholten Gebrauch nutzt er sich ab. Die
Welt glaubt immer weniger an deine Worte, der Zauber funktioniert
nicht mehr richtig. Schreibst du ihn auf, um ihn jemandem zu
überlassen, ist in ein paar Monaten selbst der beste Spruch dahin!
Deshalb horten Magier ihre Zaubersprüche und sprechen sie nie ohne
Not aus, improvisieren häufig und verzichten bei den kleinen
Aufgaben des täglichen Lebens grundsätzlich auf Magie.«
»Triff deine Entscheidung, mein Junge!«, sagte Paclus. »Du bist ein
tapferer Knappe, ich würde aus dir einen Ritter machen. Aber wenn
du lieber Magier werden willst …« Er verstummte, um dann traurig
fortzufahren: »Wer weiß, vielleicht kämpfen wir dann ja irgendwann
auf dem Schlachtfeld Seite an Seite. Und während du deine schönen
Worte formulierst, schütze ich dich mit meinem treuen Schwert gegen
Monster.«
Trix nickte. Er dachte nach. Dann trat er an den Ritter heran und
umarmte ihn fest.
»Heißt das, du willst Ritter werden, mein Junge?«, fragte Paclus
gerührt.
Radion Sauerampfer lächelte.
»Nein, Sir Paclus. Mit Eurer Erlaubnis würde ich gern
Zauberlehrling bei Eurem Freund werden«, antwortete Trix. »Vielen
Dank für alles. Ich hätte versucht, ein würdiger Knappe und Ritter
zu werden. Aber ich glaube, die Magie, das ist wirklich
meins.«
Paclus nickte. »Du hast wohl recht, Trix«, sagte er
niedergeschlagen. »Viel Glück!«
Trix wandte sich dem Magier zu: »Welche Aufgabe habt Ihr für mich,
Lehrer?«
»Geh zwei Etagen tiefer, Schüler. Dort findest du eine große und
dreckige Küche. Sieh zu, dass du sie im Laufe des Abends etwas
sauberer kriegst. Und vergiss nicht, dass wir Magier bei niederen
Alltagsarbeiten auf Magie verzichten.«
»Zu Befehl«, antwortete Trix unerschüttert.
Bevor er sich entfernte, warf er einen letzten Blick auf das
Spielzeughaus. »Es ist ein sehr tapferer Junge«, hörte er Paclus
Radion zuflüstern. »Aber lass dir eins gesagt sein: Manchmal steht
er auf der Leitung.«
»Oh ja, das ist mir auch schon aufgefallen«, antwortete der Magier
zufrieden. »Aus denen werden die besten Magier.«
Und mit einem breiten Lächeln auf den Lippen ging Trix in die Küche
hinunter, ganz wie ein Mann, der seinen Platz im Leben endlich
gefunden hat.